In der Türkei ist jeden Sonntag Ausgangssperre, zu der man nur mit gutem Grund (Essen einkaufen, dringender Arztbesuch etc.) aus dem Haus darf. Und das auch nur zu bestimmten Uhrzeiten, zu denen dann nur Lebensmittelgeschäfte geöffnet haben. Für Touristen gilt diese Ausgangssperre nicht, wir sind jedoch Gast im Land und es fühlt sich komisch an, Freiheit zu genießen, während unsere Gastgeber nicht vor die Tür dürfen. So gingen wir auch nur kurz raus und verzogen uns dann wieder in unser Apartment in Eskisehir.
Nach einem ruhigen Tag im Apartment, an dem Jan ein neues Video fertig gestellt hat (siehe oben oder in unserem YouTube Kanal, gerne als Abo), haben wir am Montag dann die kunterbunte Altstadt von Eskisehir erkundet: an jeder Ecke gibt es ein kleines Café, in Innenhöfen nette Restaurants, viele Werkstätten von Kunsthandwerkern und dazugehörige Lädchen, in denen man unter anderem handgeschnitzte Dinge aus Meerschaum kaufen kann.
Meerschaum ist ein relativ seltenes Mineral, das in der Region rund um Eskisehir in reinweißer Form abgebaut wird. Daraus werden traditionell die Meerschaumpfeifen geschnitzt und wir konnten in einem kleinen Museum wahre Kunstwerke aus Meerschaum bewundern! Für so manche Pfeife braucht man (mindestens) zwei Hände zum Rauchen. 😊
Wir haben gelernt, dass es einen Unterschied zwischen „Meerschaum“ und „Wiener Meerschaum“ gibt: letzterer besteht aus Kalk, Bindemittel und Meerschaum-Sägemehl. Sieht genauso aus, ist aber billiges Imitat. Was in den kleinen Werkstätten der Altstadt verarbeitet wird, war nach dem Besuch im Museum plötzlich nicht mehr so klar für uns… Übrigens werden Meerschaum-Krümel zu Katzenstreu verarbeitet. Ich wisst schon, das weiße, saugfähige Streu, das nicht klumpt.
Unser Vermieter machte zum Abschied noch ein Foto mit uns, denn wir waren die ersten Gäste aus dem Ausland und er hat sich so über unser Kommen gefreut! Wir fuhren ins „Phrygische Tal“, das so heißt, weil dort im 8. Jahrhundert v. Chr. die Phryger lebten. Die Reisevorbereitung war etwas schwierig, da diese Region so gut wie nicht touristisch erschlossen ist und ich nirgendwo verlässliche Karteneinträge oder GPS-Koordinaten finden konnte. Nur grobe Wegbeschreibungen oder den Satz „es lohnt, jede Piste zu fahren, denn man findet überall Interessantes!“. Diesem Ratschlag sind wir gefolgt und schon die erste Piste führte uns zu einem spektakulären „Hochhaus“ von vor 29 Jahrhunderten.
Wow! Rund um dieses „Hochhaus“ gab es noch einige weitere Wohnfelsen mit Treppen, einzelnen Zimmern, Kammern, Regalen, Fenstern… Ein wenig erinnert es an Kappadokien (da waren wir beide schon auf vorherigen Reisen) und doch ist es extrem anders.
Zurück zur Straße und die nächste Piste genommen. Dort wartete die nächste Überraschung auf uns: ein Totentempel mit griechisch anmutendem Giebelfries und rund 10 bestens erhaltenen Grabkammern im Inneren, dazu eine Art „Terrasse“ mit herrlichem Blick in die felsige Landschaft. Wir waren so begeistert! Sollten wir noch eine „Überraschungspiste“ oder direkt zur Midasstadt, dem absoluten Highlight, fahren? Wir entschieden uns für Midasstad.
Dort wurden wir vom Bürgermeister des nahegelegenen Dorfes begrüßt, der etwas Deutsch konnte und uns erklärte, wie wir laufen sollten, um das Wichtigste zu sehen. Zunächst läuft man auf das imposante Midas Monument zu: eine riesige, mit geometrischen Mustern verzierte Kultfassade. Einfach nur wow! Ein paar Minuten weiter gibt es noch eine zweite, allerdings unvollendete solche Fassade.
Die touristische Infrastruktur (es gibt nicht mal Parkplätze und wir parkten inmitten von Kühen!) beschränkt sich auf Holzplanken an Stellen, an denen das Gelände zu sehr von Felsspalten durchzogen ist. Da das Gras nicht gemäht ist und so wenige Besucher das Phrygische Tal bereisen, war es teils schwierig, den Weg zu finden – und die Sehenswürdigkeiten der ehemaligen Metropole. Jan fand zufällig beim Pinkeln eine riesige Zisterne als Teil des ausgeklügelten Wassersystems!
Wir durchstreiften stundenlang Midasstadt und genossen die Zeit in „wilder“ Natur sehr. Es war wie Schatzsuche, denn auch wenn wir uns verliefen, kamen wir immer wieder an interessanten Dingen vorbei. Der Rückweg über einen „Pilgerweg“ genannten, in damaliger Zeit gepflasterten Weg bergab vom Plateau war gut erkennbar und auch im GPS (maps.me). Allerdings hatten wir beim Querfeldeinlaufen so einige Disteln und Kletten aufgesammelt.
Als wir recht spät zum Ausgangspunkt zurückkamen, saß dort immer noch der Bürgermeister und war richtig froh, uns zu sehen. „Jetzt Arbeit fertig. Jetzt nach Hause.“ Erklärte er. Er hatte also tatsächlich aufgepasst, ob wir wieder aus Midasstadt herauskommen und auf uns gewartet. Und wir haben uns stundenlang auf Entdeckungstour durch die Natur treiben lassen wie wohl wenige Besucher zuvor. Der Mann tat uns leid, hatte er nur auf uns gewartet!
Wir fanden einen Schlafplatz in der Nähe eines phrygischen „Wohnturms“, kochten im Abendsonnenschein zwischen den Felsen und verbrachten auf 1200m eine kühle, wunderschöne Nacht in mystischer Umgebung unter sternenklarem Himmel. Das Phrygische Tal war bisher tatsächlich das Highlight in zwei Wochen Türkei.
Ein Highlight kommt aber selten allein und uns ist völlig unverständlich, warum diese Region absolut touristisches Niemandsland ist. Es gibt auf Instagram nicht mal englischsprachige Hashtags zu den Sehenswürdigkeiten dort! Ein guter Hinweis darauf, dass nur Türken davon wissen, die „Traveller“ dort mit ÖPNV nicht hinkommen und die „Overlander“ mit ihren Expeditionsfahrzeugen doch nur wie die Lemminge zu den Highlights entlang der Adriaküste und nach Kappadokien fahren. So schade! Denn auch Blaundus ist klasse!
Blaundus sieht ein wenig aus wie ein „türkisches Stonehenge“, war in Wirklichkeit aber ein römischer Bischofssitz, der zurzeit immer noch ausgegraben wird. Das, was noch steht und nicht erst als „IKEA für Archäologen“ wieder zusammengesetzt werden muss, sieht ziemlich mystisch aus und ist ein tolles Fotomotiv. Außer uns waren die einzigen Besucher ein Brautpaar samt Fotografenteam, die in den Ruinen wunderschöne Hochzeitsfotos machten. Eintritt muss man übrigens weder dort noch im Phrygischen Tal zahlen.
Nach einer etwas stürmischen Nacht, die wir im Schutz einiger Steineichen verbrachten, fuhren wir zum Ulubey Canyon, dem nach dem Grand Canyon zweitlängsten Canyon der Welt! Auch wir hatten noch nie davon gehört, aber 40-45km Länge ist beachtlich! Der gesamte Canyon ist Nationalpark und auch ein weißer Fleck auf der touristischen Landkarte.
Es gibt ein Besucherzentrum mit Glasplattform, auf der man über dem Abgrund des Canyons steht. Der eine Euro Eintritt war völlig gerechtfertigt, zumal wir vor knapp zwei Jahren die jetzt erst kürzlich während der Öffnungszeiten zerbrochene gläserne Brücke in China für 60$ pro Person nicht betreten hatten. 60$ für eine Brücke pro Person gegen 1€ hier… Dafür verbrachten wir eine ganze halbe Stunde auf der Glasplattform über dem Ulubey Canyon und schauten den Raubvögeln unter uns beim Jagen zu.
Wir zögerten etwas, in Richtung „Massentourismus“ zu fahren, denn seit Oktober 2019 reisen wir fast „menschenfrei“ und hauptsächlich zu vom Tourismus außer Acht gelassenen Sehenswürdigkeiten oder einfach antizyklisch in Länder mit viel Tourismus wie z.B. Usbekistan im Februar, Sibirien und Mongolei im Winter etc. Doch jetzt ist Sommer und wir wussten nicht, wie viel Lust wir auf Besuchermassen bei massentouristischen Sehenswürdigkeiten haben. Aber diese Ziele ganz auslassen? Schließlich hat es ja auch Gründe, warum jeder dort hinfährt, egal ob Individualtourist oder Massentourist. Wir entschieden, uns vorsichtig heranzutasten und hofften darauf, dass die Pandemie und die Entfernung zu Antalya und Alanya uns wie in Troja Ruhe schenken würde.
In Bergama, dem früheren Pergamon, fanden wir mitten in der verwinkelten Altstadt Unterkunft im eigenen Auto im Innenhof eines Herrenhauses mit wunderschönem Garten, in dem man sein Zelt aufschlagen darf. Das Angebot richtet sich eigentlich an Motorrad- und Radreisende. Dass Gäste kein Zelt dabeihaben und trotzdem campen möchten, verstand der Gastgeber nur schwer. Ob er uns ein Zelt leihen soll? Das sei wirklich kein Problem! Wir mussten ihm erst unser Schlafzimmer in Passat Hans zeigen, bevor er verstand. Nur, um abends doch nochmal anzubieten, er könne uns wirklich sein Zelt im Garten leihen! So nett! Aber wir schlafen in Hans besser als in Zelt oder Steinhaus. Auch, wenn es ungewöhnlich ist. Dass unsere Matratze im Auto aus dem Matratzenladen ist und 1/10 des Autopreises gekostet hat, sieht ja keiner.
Bergama liegt fast auf Meereshöhe und dementsprechend heiß war es auch. So kamen wir wieder zu unserer Taktik vom Sommer im Kaukasus 2018, Sehenswürdigkeiten immer entweder ca. 2 Stunden vor Schließung im Abendlicht oder direkt morgens, wenn es noch kühl ist zu besuchen. Wir fuhren also um 16 Uhr mit der Seilbahn auf die Akropolis von Bergama, dem antiken Pergamon. Außer uns erkundeten die Stätte nur eine kleine (mexikanische?) Reisegruppe, zwei türkische Mütter mit Kleinkindern und eine US-amerikanische Familie. Wir hatten die gesamten Ruinen quasi komplett für uns allein. Herrlich!
Was uns besonders gut gefiel, war, dass zum Beispiel bei den Marmorsäulen des Trajaneum dort, wo Originalsteine fehlten, deutlich sichtbar mit Kunststein aufgefüllt wurde, sodass die „Flicken“ deutlich sichtbar waren und, anders in Usbekistan, nicht die Illusion entstand, dass alles komplett erhalten sei. Wir mussten an den Restaurator aus Bursa denken der uns erklärt hatte, eine gute Restaurierung müsse sichtbar sein und daran, wie auf wundersame Weise in Samarkand so manches Türmchen an Medressen „angedichtet“ wurde und Touristen alles als „original“ vorgegaukelt wird…
Das Amphitheater von Pergamon ist extrem steil, fasste aber 10.000 Besucher im Steilhang bei bester Aussicht. Wenn das Schauspiel damals nicht gut war, gab es also trotzdem was zu gucken…
An der Stelle, an der der berühmte Pergamonaltar stand, ist heute nur noch ein Steinhaufen, auf dem zwei große Bäume wachsen. Das Original befindet sich im Pergamonmuseum in Berlin. Wir finden es schade, dass der Altar auch dort bleiben wird und Deutschland nicht daran denkt, ihn dort hin zurück zu geben, wo er Jahrhunderte war. Die Deutschen haben ihn rechtmäßig übereignet bekommen, doch wir denken, es ist an der Zeit, der mehrfachen Bitte des türkischen Kulturministers um Rückgabe nachzukommen.
Als wir am Abend gemütlich in Hans saßen und uns die Bäuche vom Aprikosenbaum unseres Gastgebers vollschlugen, zog ein rotgetigertes Katzenbaby bei uns ein. Jan taufte ihn „Gingey“ und er adoptierte uns. Solange wir gemütlich erzählten, durfte Gingey bleiben. Als wir aber nach hinten ins Bett zogen, warfen wir unseren Besuch raus. Der akzeptierte das aber nicht und machte so lange Radau, bis wir die Autotür wieder öffneten und mit Gingey unser Bett teilten. Er verbrachte die gesamte Nacht bei uns und bettelte beim Frühstück im Garten um Adoption. Es tat uns richtig leid, ohne ihn weiter zu reisen, aber wir möchten uns derzeit nicht mit einem Tier belasten, so sehr wir alle drei ineinander verliebt waren…
Wir sind jetzt in Izmir in einem kunterbunten Hostel in der Altstadt und genießen es, mal wieder unter Unsresgleichen zu sein. Die Nationalitäten des ersten Abends: Oman, Serbien, Iran, Vietnam, USA, England, Deutschland, Mazedonien und Kolumbien. Wir aßen zusammen und teilten Geschichten von unterwegs: wer war wo, als der Lockdown kam? Wer ist deswegen heim, wer hat weiter gemacht? Wer war wo, wer will wo hin? Lebt Couchsurfing weiter? Wie hast Du in China bezahlen können? Herrlich, so viele erfahrene Langzeitreisende auf einem Haufen, so viel Reiseerfahrung rund um den Esstisch, so viel entspannte Gespräche in diversen Sprachen bunt durcheinander! Und Hans? Der ist irgendwo, wir haben ihn schon länger nicht gesehen. Wir haben ihn samt Schlüssel einem Parkservice abgegeben, der die nächsten Tage dafür sorgt, dass Hans für 3€/Tag irgendwo parkt. Wo? Keine Ahnung, die machen das schon!
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