Rund um „das Land, das es nicht gibt“ Transnistrien ranken sich viele Mythen. Auch wir sind einigen davon aufgesessen, wie wir nun wissen. Aber es war so richtig lustig!
Wir hatten uns ja in einem niedlichen Dorf in Moldawien mit unserer rumänisch-moldawischen Motorradreisefreundin Luiza getroffen und es war schwer, uns von dort wieder aufzuraffen. Warum sie gerade dort Reisepause macht, war für uns sofort nachvollziehbar: zu schön, um weiterzufahren! Aber wir hatten unsere Reisepause gerade in Bulgarien und fuhren weiter.
Das Felsenkloster Tipova wurde von einem Eremiten gegründet und hat allerbeste Aussicht auf den Dnister Fluss, der die natürliche Grenze zu Transnistrien darstellt. Dieser Fluss mäandriert ohne menschliche Eingriffe sanft vor sich hin, in den Flussauen baden Gänse und Enten, Schilfrohr wächst mehrere Meter weit vom Ufer als dunkelgrüner Schürze in den Fluss hinein, überall zwitschert, summt und surrt es: wo in Westeuropa gibt es noch so eine Natur? Ohne menschliche Eingriffe wie Begradigung, Trockenlegung und Bebauung? Wir genießen solche „natürliche Natur“ in Osteuropa jedes Mal aufs Neue! An welchem Fluss habt Ihr zuletzt Libellen gesehen? Und nicht nur eine, sondern viele, viele? Es ist so traurig, wie der Mensch die Natur zerstört, um Felder zu vergrößern, Baugrund zu erschließen und Straßen zu bauen. Und dann kommt der Regen, mit ihm die Flut und das Drama ist groß. Ihr wisst schon…
Zum Felsenkloster muss man entlang der Steilküste einen schmalen Pfad laufen, auf dem wir immer und immer wieder pausierten, um den Ausblick auf die so wunderschöne Flusslandschaft zu genießen, uns fast daran zu ergötzen, so lieblich schön! Das ehemalige Eremitenkloster ist heute wieder bewohnt, noch heute genießt ein einzelner Mönch die Aussicht, allerdings nicht als Eremit, denn für lächerliche 0,50€ darf man sich bei ihm umschauen. Wandern muss man aber trotzdem etwas.
Kleine Anekdote für „uns Bulgaren“: der mythische thrakische (nicht „griechische“!) Sänger Orpheus soll in den Felsen seine letzten Lebensjahre verbracht haben. Auf seinen Spuren waren wir im Sommer 2020 in den Rhodopen unterwegs und „trafen“ ihn hier wieder. Das Kloster selbst ist nicht spektakulärer als viele andere Felsenklöster dieser Welt, aber die Landschaft am Fluss den Weg wert!
Wie Ihr wisst, legen wir immer großen Wert auf Homestays, um das Land nicht nur „auf der Durchreise“ zu sehen und Sehenswürdigkeiten abzuhaken, sondern auch zu erleben, wie die Menschen dort leben und was sie so denken. Wie wohnen sie? Was essen sie? Was haben sie für Gedanken, Pläne, Sorgen? Wir waren ja schon bei einer gagausischen Familie zu Gast und auf einem moldawischen Hof. Nun fuhren wir aufs „Gänsedorf“ zu einer Familie, die ihr Haus direkt am Dorfteich hat. Die dort tagsüber schnatternden Enten und Gänse hatten für schlechte Bewertungen gesorgt, aber wir genossen die Geräuschkulisse sehr. Besonders, weil sich auch große grüne Frösche mit lautem Quaken in das Geschnatter einmischten. Es war richtig Leben im Teich!
Unsere Gastgeber servierten „Kompot“ (nicht zu verwechseln mit dem deutschen „Fruchtmatsch“, sondern ein Obstgetränk, das von Osteuropa bis zum Pazifik serviert wird) und wir saßen zu Sonnenuntergang im Garten und genossen hausgemachte Leckereien. Es gab sogar frisch gebackene Kekse! Die Dame des Hauses hatte in Spanien gearbeitet, sodass die Kommunikation flüssig und einfach war: das sprechen Jan und ich beide!
Internet gab es fast nicht, aber auch das ist etwas, was man nur dann erlebt, wenn man vor Ort ist: in einem winzigen Dörfchen, welches nur über eine Schotterstraße zu erreichen ist. Übrigens sind die großen Straßen in Moldawien recht gut. In Gagausien perfekt und neu, im Rest des Landes von „besser als in Deutschland“ bis hin zu „Flickenteppich“ und „gepflegte Schotterstraße“. Die Schotterstraßen sind wirklich so gepflegt, dass man auch mit einem normalen Auto (wir sind ja mit Hans, unserem 32 Jahre alten Passat unterwegs!) zügig und rumpelfrei darüber rollen kann.
Zum Frühstück gab’s eine Art „süße, heiße Frischkäseröllchen“ aus Pfannkuchenteig und weitere hausgemachte Schlemmereien. Wir fühlten uns wieder Mal so unendlich wohl und genossen den Blick auf den Dorfteich samt dazugehöriger Dorfkulisse nochmal, bevor wir weiterfuhren. Unsere Gastgeberin meinte zwar, unser nächstes Ziel sei nur zu empfehlen, wenn man den Pfau sehen wolle, aber wir fuhren trotzdem hin.
Im Saharna Kloster wohnt tatsächlich ein Pfau, der auf die vielen, sehr jungen bis sehr alten Nonnen und den Priester aufpasst. Hinter dem Kloster im Wald ist ein Badeplatz, zu dem viele Menschen pilgern, um dort mit einem Priester rituelle Waschungen zu machen, doch aufgrund der anhaltenden Trockenheit, über die wir die Menschen im Land täglich klagen hörten, sei dort derzeit kein Wasser, so unsere Gastgeberin. Wir beschränkten uns daher auf die beiden Kirchlein des Klosters. Nichts Besonderes an sich – wenn nicht die süße Nonne gewesen wäre!
Beim Betreten des Kirchleins sprach sie uns an, ob sie für uns beten solle. 40 Tage generelle Fürbitte koste pro Person umgerechnet einen Euro. In dieser Fürbitte sei die Gesundheit schon inkludiert, aber wenn sie noch explizit für Gesundheit beten solle, dann koste das 50cent extra. Ein Schild erklärte, dass das Geld dem Erhalt des Klosters zugutekomme. Wir buchten das „Komplettpaket“ und trugen unsere Namen in das dicke Fürbitte-Buch ein. Auf welcher Sprache sie für uns beten solle, wollte die schrumpelige, winzige alte Frau noch wissen. „Auf Russisch oder Moldawisch?“ mussten wir entscheiden. Da wir kein Moldawisch (eine Art „altmodisches Rumänisch mit russischen Ausprägungen“) können und nur auf Russisch zurückgreifen, um wenigstens irgendeine Chance auf Kommunikation zu haben, entschieden wir uns für Moldawisch. Jan sagt, das ist auch besser wegen der Sanktionen. Nicht, dass da was schief geht bei der Fürbitte und das mit der Gesundheit nicht klappt!
So wurde der Besuch im Kloster trotz ausgetrockneter Badestelle ein herzerwärmendes Erlebnis und wir saßen noch eine ganze Weile auf einer Bank im Kloster, beschallt von Kirchengesängen vom Band. Die Musik konnte man im Klosterlädchen als Ergänzung zu all den Heiligenbildchen und Ikonen kaufen. Auf uns passt schon seit vielen Jahren ein solches Heiligenbildchen auf: der heilige Sankt Georg, Schutzpatron der Reisenden, fährt im Cockpit von Hans dem Passat mit. Als Zusatzversicherung sozusagen – oder für dann, wenn die Zeit der 40 Tage Fürbitte abgelaufen ist.
Luiza hatte uns noch nach Soroca geschickt – wegen der Festung. Ich hatte eine Zeichnung davon schon in ihrem moldawischen Pass gesehen und sie meinte, es sei die schönste Festung des Landes. Von außen können wir das auch wirklich bestätigen: wunderschön thront sie am Dnister Fluss – wird aber gerade renoviert und ist daher geschlossen. Schade! Das Café nebenan hatte das zweite ernstzunehmende WiFi des Landes (nach einem Café in Chisinau) und wir verbrachten den Nachmittag dann am PC statt in der Burg. Auch das muss unterwegs sein, schließlich sind wir nicht in Urlaub, sondern finanzieren unseren nomadischen Lebensstil ganz normal mit Arbeit. Online.
In Moldawien leben nur unter 0,5% Roma – und diese wenigen konzentrieren sich größtenteils rund um Soroca und sorgen dort für eine weitere Art „Sehenswürdigkeit“: es gibt ein Viertel, in dem sich „Roma-Palast“ an „Roma-Palast“ reiht und jedes Haus ist skurriler als das andere. Die meisten Bauten sind nicht fertiggesellt und teilweise ziemlich zugemüllt, aber ein Ausflug durch dieses Viertel sorgt für viel Schmunzeln.
Es gibt eine „Interpretation“ des Brandenburger Tors als Haus (wichtig: mit „Quadriga“ unterm Giebel, allerdings mit nur DREI Pferden!), eine Interpretation des Capitols, diverse Phantasiebauten, zum Beispiel mit gold- oder silberfarbenen Kuppeln, unzähligen Säulen, Türmchen, Balkonen und was man sonst noch so an ein Gebäude bauen kann, um es zu überladen. Und weil an diesen Gebäuden einfach zu viel angebaut wurde, fehlt am Ende das Geld und der Putz, klaffen die Fenster ohne Glas oder sind die Türen mit Holz vernagelt. Die Roma haben einfach eine Kultur, die für uns nicht wirklich nachvollziehbar ist. Auffällig auch: der Müll hinterm Gartenzaun.
Moldawien ist für uns eins der saubersten, wenn nicht sogar DAS sauberste Land, das wir je erlebt haben. Nirgends Müll (außer in Wohnvierteln jener ethnischen Minderheit, wie auch in Bulgarien oder Rumänien) und in Dörfern und Städten ein Sinn für „Niedlichkeit“: hier in Blümchen, dort ein Bäumchen, hier eine Skulptur, dort eine Ruhebank. Wir hatten den Eindruck, die Leute sind permanent damit beschäftigt, ihre Umgebung sauber und schön zu halten. Auch in den Haushalten, die wir besuchen durften, ist uns dieser „Sinn für die kleinen Details“ extrem aufgefallen: hier ein Spitzendeckchen, dort eine Stickerei, ein Blümchen oder sonstige Deko. Selbst Sprossenfenster haben nicht bloß Holzsprossen! Nein, sie sind verziert mit Blumen, Mustern und teils in geschwungenen Linien. Hauswände verziert mit Malereien, die Regenrinnen mit Zierborten verschönert, die Fenster hübsch umrahmt, die Zäune aus kunstvollen Ornamenten.
Und alles unglaublich gepflegt und sauber. Wir sahen Menschen ihren Gartenzaun streichen, den wir erst frühestens in drei Jahren gestrichen hätten. Wir beobachteten einen Mann, der den Bordstein vor seinem Haus neu weiß tünchte und dachten spontan „der geht aber noch!“. Eine Frau jätete Unkraut auf dem Bürgersteig eines Ortseingangs und eine andere – und das war wirklich der Höhepunkt an niedlicher Pingeligkeit – staubte mit einem großen Pinsel und einem Eimer Seifenwasser die Fugen ihrer Gartenmauer ab, die durch die Schotterstraße ganz staubig waren. Eine für uns unglaubliche Liebe zum Detail und Ordentlichkeit. Da kommt der berühmte deutsche Sauberkeits- und Ordnungssinn nicht mal ansatzweise mit. Luiza hatte uns erklärt, es gäbe auf Rumänisch sogar ein eigenes Wort für diese moldawische Charaktereigenschaft. Es sei nicht nur sprichwörtlich, sondern ein eigenes Wort wert. In Deutschland ist es übrigens nur deshalb sauberer als in anderen Ländern (aber wesentlich dreckiger als in Moldawien!), weil in Deutschland das Geld da ist, Ausländer den Dreck weg machen zu lassen… Bitte lasst also den Zeigefinger da, wo er hingehört – oder zeigt maximal auf den Spiegel.
Wir verbrachten die Nacht irgendwo im Feld, kamen zum Frühstück in das Café mit gutem WiFi zurück und machten uns dann auf in ein mysteriöses „Land“: Transnistrien. Als Anfang der 1990er Jahre die UdSSR zerbröckelte, wollte die SR Moldawien als unabhängiger Staat Rumänisch / Moldawisch als Staatssprache haben und verbot Russisch. Da im östlichen Teil des neuen Landes (dem heutigen Transnistrien) und im Süden (dem heutigen Gagausien) jedoch viele russischstämmige Menschen lebten, traf diese Entscheidung nicht überall auf Gegenliebe. Außerdem favorisierte Moldawien den Anschluss an Rumänien, was auch nicht allen gefiel. Die Gagausier hielten erstmal die Füße still und schafften später friedlich die Autonomie im Staate Moldawien, die Transnistrier gingen buchstäblich an die Decke und es kam zu kriegerischen Auseinandersetzungen.
Transnistrien wollte ein eigens Land in russischer Tradition werden, das gerade erst gegründete Land Moldawien aber wollte ein vereinigtes Land mit Gagausen, Bulgaren (die bis heute einen größeren Teil der Bevölkerung stellen, doch dazu später), Ukrainern und Russen unter einem Dach. Bis heute ist es zu keiner Einigung gekommen. Transnistrien hat 1992 seine Unabhängigkeit erklärt, aber niemand hat sie anerkannt. Nein, auch nicht Russland. Auch, wenn das immer wieder behauptet wird. Transnistrien ist de facto also immer noch Moldawien, „spielt“ aber trotzdem „Land“: es gibt eine eigene Währung (die, wie früher die Ostmark, nur dort genutzt werden kann), eigene KFZ-Kennzeichen und Russisch statt Moldawisch als Umgangssprache. Dass mittlerweile kaum noch 30% der Bevölkerung Transnistriens russischstämmig sind, weiß auch kein Westler. Die Moldawier, Ukrainer, Bulgaren und andere Volksgruppen stellen mit zusammen 70% die große Mehrheit dar, sprechen aber Russisch als gemeinsamen Nenner. Wie im letzten Blogpost beschrieben, ist Russisch auch in anderen Teilen Moldawiens die große sprachliche Gemeinsamkeit.
Weil Transnistrien Land spielt, man aber faktisch nicht aus Moldawien ausreist, gibt es zwar eine Grenze mit Formalitäten, aber man bekommt keinen Ausreisestempel von Moldawien, nur einen Einreisezettel für Transnistrien. Man muss transnistrische Maut zahlen (in Dollar oder Euro) und mit Nennung einer Adresse bekommt man dann eine Aufenthaltserlaubnis von mehr als der üblichen 12 oder 24 Stunden Transit. Wir waren vorbereitet, hatten kleine Dollarscheine und eine (Hostel-) Adresse griffbereit. Man gab uns 6 Wochen Aufenthalt.
Wir hatten gehört und gelesen, in Transnistrien sei „alles 50 Jahre rückwärts”. Aber als wir so durch das Land fuhren, war gar nichts anders als im modernen Moldawien. Die Straßen waren sogar meist besser. Das Durchschnittsalter der Autos um 20 Jahre gestiegen, aber sonst war es kaum anders als auf der anderen Seite der imaginären Grenze.
Einiges war aber wirklich wie in Russland und nicht wie in Moldawien. Jedoch nicht das Russland der UdSSR, sondern das heutige Russland, was wir beide sehr gut kennen und intensiv bereist haben. Das Russland von heute hat zu beiden Seiten der Landstraße breite, gepflegte Grünstreifen, gefolgt von einer Reihe Bäume, hinter der sich endlose Felder erstrecken – auf denen derzeit überall riesige Claas Mähdrescher arbeiteten. Auf den Straßen fuhren Kamaz LKW statt Mercedes und Co und die Kleinlaster waren entweder Sprinter oder GAZellen. Wer sich mit Russland auskennt, der weiß, dass Claas ein Werk dort hat, dass der Sprinter T1N in Russland gebaut wurde und dass die GAZelle die russische Variante vom Sprinter ist. Das war der einzige sichtbare Unterschied zum „Mutterland Moldawien“.
Wir hatten uns im Vorfeld über Transnistrien „schlau gelesen“ und wussten daher, dass die größte Supermarktkette des „Landes“ die von „Sheriff“ ist. „Sheriff“ ist eine Unternehmensgruppe, die von ehemaligen KGB-Mitarbeitern gegründet wurde und für mindestens 50% der transnistrischen Steuereinnahmen verantwortlich ist. „Der Sheriff“ macht so ziemlich alles im Land: Tankstellen, Supermärkte, ein Fernsehsender, zwei Brotfabriken, ein Verlagshaus, ein Luxushotel, die berühmte Spirituosenfabrik Kvint, eine Wohnungsbaugesellschaft und eine Werbeagentur, die Mercedes Niederlassung, Geldwechselstuben, das einzige Mobilfunkunternehmen und das Glücksspielmonopol, der Fußballverein „Sheriff Tiraspol“ und auch eine politische Partei. Man könnte fast sagen, ohne „den Sheriff“ läuft in Transnistrien wenig. Wir scherzten, dass sich „der Sheriff“ vielleicht damals die Sache mit Transnistrien ausgedacht hat, so als Geschäftsidee…
Das Gerücht, Transnistrien sei „wie Russland vor 50 Jahren“ oder „die UdSSR im 21 Jahrhundert“ ist allerdings eine Geschäftsidee. Und zwar der Tourismusindustrie, die das sehr erfolgreich vermarktet. Transnistrien hat ja nicht minder schöne Natur wie Moldawien, aber kein Tourist will das sehen, alle gieren nach der „Gestrigkeit“, nach einer „vergessenen Sowjetrepublik“, nach „einer Nation hinterm Mond“. Die Öko-Resorts bucht niemand, die „UdSSR-Touren“ jedoch jeder. Auch unser Hostel in der „Hauptstadt“ Tiraspol bot uns sofort eine „Sowjet-Tour“ an. Was wir für 40€ (pro Person!) zu sehen bekommen hätten? Ein paar Lenin Denkmäler (wir haben in unserem Leben schon mehr von den Dingern gesehen, als das ganze Land zu bieten hat), ein verlassener Vergnügungspark (wie er in Eriwan nostalgisch-liebevoll weiterbetrieben wird und in dessen Fahrgeschäften wir schon gefahren sind), eine Burg (die man auch ohne Tour besichtigen kann), eine Schulruine („10x besser als Tschernobyl!“) und auf einem Schießstand mit alten russischen Waffen schießen. Letzteres hätte uns tatsächlich interessiert, der Rest war einfach nur blöde Inszenierung für Touristen, denen man irgendwas zeigen muss, um die Legende der „Sowjetrepublik im 21. Jahrhundert“ gewinntreibend aufrecht zu halten.
Für ebenjene Touristen gibt’s auch „Retro-Restaurants“, in denen in wilder Sowjet-Deko mit viel Lenin „geschmackloses Sowjetessen“ serviert wird. Es wird den Touristen das vorgespielt, was sie sehen möchten und glauben. Die moderne Mall, die westeuropäischen Supermarktketten wie Coop oder Migros, die Cafés und Bäckereien, die auch in London oder New York sein könnten, werden „unterschlagen“. Die Grenzen Transnistriens sind ja nicht geschlossen und weil Transnistrier ja Moldawier sind und Moldawier rumänische Pässe haben können, sind Transnistrier natürlich keine isolierten „Inselaffen“ und auch keine „ewig Gestrigen“, sondern moderne Bürger des 21. Jahrhunderts. Mit einer digitalen Infrastruktur, an der sich Deutschland ein Beispiel nehmen könnte.
Wir, die wir Russland sehr gut kennen, sahen, was gespielt wurde und hatten keine Lust, das Touristenspiel zu unterstützen. Sicher, es war schön, „beim Sheriff“ russische Leckereien und Produkte zu kaufen, aber neben georgischem Mineralwasser und russischen Limonaden stehen halt auch Pepsi und Coca-Cola. Für uns war’s sogar richtig enttäuschend, weil einfach die meisten Produkte westeuropäisch waren und der erhoffte Nachkauf russischer Lieblingsprodukte ausblieb. Ja, ein paar Gebäude wirken noch sehr „sowjetisch“ und man sieht auch russische Flaggen. Aber nochmal: Russland hat Transnistrien nicht anerkannt (auch, wenn das gerne kolportiert wird) und Transnistrien hat sich, insbesondere in der derzeitigen politischen Lage, als explizit neutral erklärt. Schwer zu glauben und passt nicht so gut ins Bild, das man von Transistrien gerne zeichnet. Wir waren dem Bären, den man Touristen vor Ankunft aufbindet, ganz schön aufgesessen. Alles anders, als man glauben soll!
Und natürlich ist Transnistrien nicht Russland, auch wenn das gerne behauptet wird und wir von allen Seiten für völlig verrückt erklärt wurden, weil wir „nach Russland“ fahren. Leute, 1990 ist über 30 Jahre her! Wie bereits erwähnt, hat die Mehrheit der Transnistrier nicht mal einen klitzekleinen Tropfen russisches Blut! Für uns war es total lustig, das ganze Spektakel mit anzuschauen und wir fanden es auch schön, nach fast 2 Jahren, die wir nicht mehr in Russland waren, wieder ein paar russische Produkte kaufen zu können und haben uns in Tiraspol oft wie in einer x-beliebigen, modernen russischen Kleinstadt gefühlt. Aber ehrlich gesagt: in Bulgarien gibt es eine russische Lebensmittelkette, da könnten wir das ganz genauso kaufen, dafür müssen wir nicht “zum Sheriff”.
Wir amüsierten uns köstlich über „den Sheriff“, taten, als seien wir selbst Russen und genossen georgisches Essen („der Russe“ geht zum Georgier, wenn „der Westler“ zum Italiener geht), lächelten über das transnistrische „Plastikgeld“ (es gab einige Jahre Münzen aus Plastik, bis man selbst Metall prägen konnte) und wechselten mehrmals Dollar, denn wir Westler können die zahlreichen Geldautomaten nicht nutzen. Am Ende darf ja auch kein Bargeld übrigbleiben, denn außer „Landes“ bekommt man das nicht mehr zurück getauscht. Aber wir haben ja immer Dollar in diversen kleinen Stückelungen dabei. In Moldawien kommen die übrigens aus dem Geldautomaten: wahlweise Lei, Euro oder Dollar. Wir haben für Afrika nochmal ordentlich aufgestockt…
Nach zwei Tagen in Transnistrien und der touristischen Parodie eines Sowjetstaates hatten wir genug davon, im Satirebuch „Molwanien: Land des schadhaften Lächelns“ unterwegs zu sein und wandten uns wieder anderen Dingen zu. Wir wandelten durch Bessarabien auf den Spuren der Bessarabien-Deutschen und Bessarabien-Bulgaren. Bessarabien ist eine Region, die heute größtenteils im Osten von Moldawien und im Südwesten der Ukraine liegt. Als „Gouvernement Bessarabien“ war es Teil des Russischen Reiches. Die Hauptstadt war die heutige Hauptstadt Moldawiens: Chisinau. Die Region war dünn besiedelt und so beschloss Zar Alexander I, Siedler aus Deutschland, Bulgarien und der Ukraine anzuwerben. Es wurden nach Herkunft der Siedler sortierte Dörfer gegründet und jede Nation der Siedler bekam andere „Anwerbe-Angebote“.
Die Deutschen, die ab 1813 aus dem süddeutschen Raum nach Bessarabien auswanderten, wurden mit zinslosen Krediten, Steuerfreiheit, Landschenkungen, Religionsfreiheit und anderen „Schmankerln“ beschenkt. Je nach Siedlungsgebiet und Phase der Neubesiedlung bekamen sie auch Häuser gestellt. Bis in die 1940er Jahre lebten rund 95.000 Deutsche in Bessarabien und natürlich hatten ihre Dörfer auch deutsche Namen wie „Neudorf“ oder „Glückstal“. Auf dieser Karte könnt Ihr sehen, wo die Dörfer waren und wie sie hießen: Karte Bessarabiendeutsche In den 1880er Jahren waren die deutschen Siedler jedoch wirtschaftlich so erfolgreich, dass ihnen die Privilegien und Förderungen alle gestrichen wurden und eine erste Welle siedelte zurück nach Deutschland. Ab 1940 gab es eine von Deutschland propagierte Kampagne „Heim ins Reich“, der bis 1945 ungefähr 93.000 Personen folgten. Damit endete die deutsche Besiedlung Bessarabiens, die Dörfer verloren ihre deutschen Namen und die von den Deutschen gebauten, protestantischen Kirchen wurden umfunktioniert. Wir haben uns die ehemalige evangelische Kirche in Glückstal angeschaut. Sie ist jetzt Mehrzweckhalle. Die deutschen Wurzeln in Bessarabien scheinen ziemlich ausgelöscht, doch in Deutschland noch präsent. Als wir auf Facebook schrieben, nach Bessarabien zu fahren, kommentierten viele Leute, dass Ihre eigenen Vorfahren oder Nachbarn, Freunde, Bekannte etc. aus Bessarabien seien. Einen Bessarabien-Nachfahren kennt in Deutschland übrigens jeder: Horst Köhler, den ehemaligen Bundespräsidenten.
Die Bessarabien-Bulgaren kamen zur selben Zeit wie die Deutschen, hatten jedoch andere „Siedlungsverträge“ und ihren Höhepunkt der Neubesiedlung erst zwischen 1880 und 1920. Es gab für Bulgaren keine „Heim ins Reich“ Kampagne, weswegen sie immer noch dort sind. Im ukrainischen Teil Bessarabiens sind immer noch um die 129.000 Bulgaren, in moldawischen Teil sollen es über 65.000 sein. Für uns, die wir aus Bulgarien kommen, war es lustig zu sehen, dass die Häuser dort aussehen wie in der Region rund um Gabrovo und auch die Ortsnamen sind wie von dort. Die klassische Endung der Region, „-tsi“, kommt in bulgarischen Dörfern Bessarabiens in Ortsnamen vor und es gab auch einen Supermarkt und ein Dorf mit dem Namen „Shipka“, eine Kleinstadt mit berühmtem Kloster in derselben Region Bulgariens.
Es gibt zu beiden Nationen Museen: die Deutschen haben ihr Museum im ehemaligen Glückstal, die Bulgaren in Parkany, wo bis heute 80% des Ortes Bulgaren sind und auch an der Schule Bulgarisch unterrichtet wird. Beide Museen blieben für uns leider geschlossen. In Glückstal trieben wir zwar die Schuldirektorin auf, in deren Gebäude sich das Museum befindet, aber sie, typisch russisch, konnte uns nur anblaffen, dass das Museum nur für offizielle Delegationen geöffnet wäre und wir seien schließlich keine. Traurig für uns, aber wir schmunzelten auch: es gibt sie doch noch, die klischeehafte russische Direktorin mit strengem Blick, Hornbrille und autoritärer Sprache! 😊 Im bulgarischen Ort waren die Leute hilfsbereiter, aber letztendlich standen wir dann doch vor verschlossener Tür.
Wir haben in Bessarabien übrigens viele bulgarische Kennzeichen gesehen. Derzeit sind in Bulgarien Sommerferien und offensichtlich besucht man die Verwandtschaft. Angeblich sollen die Bulgaren dort auch Bulgarisch sprechen, aber wir haben nur Russisch gehört, denn das ist im heutigen Bessarabien der „gemeinsame Nenner“, der alle Gruppen (Gagausier, Moldawier, Ukrainer, Russen…) in der Region verbindet. Und solange wir uns nicht als „Bulgaren“ zu erkennen geben, kann ja auch keiner mit uns Fremden Bulgarisch sprechen.
Auf der Rückfahrt nach Bulgarien entschieden wir spontan, wieder zum „Campingplatz“ im Obstgarten des netten Herrn in Rumänien zu fahren. Es war schon fast dunkel, als wir in seinen Garten rollten und er freute sich sehr, uns wiederzusehen. Der hintere Teil des Gartens war voll mit einer großen Gruppe Zelte, doch im vorderen Teil fand eine private Feier zum Feiertag „Sankt Adrian“ statt. Der Gartenbesitzer heißt Adrian und so war es auch sein Namenstag, zu dem wir noch bevor wir richtig eingeparkt hatten, mit leckerem Gebäck und Wein mitfeiern durften. So ein wohlig warmes Gefühl im Herzen!
Mittlerweile sind wir zurück in unserer Base in Bulgarien und haben lieben Besuch aus Deutschland. Am Sonntag geht’s zurück nach Afrika. Das erste Visum, das für Ägypten, haben wir im Pass kleben, das zweite, für Jemen inklusive nötiger Permits, wird erst 4 Wochen vor Einreise beantragt. Drückt uns die Daumen!
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