In der ersten Woche in Benin waren wir ja schon verzaubert vom Land, doch die zweite Woche hat uns ganz den Atem verschlagen. Benin ist einfach magisch. Auf ganzer Linie.

Wir hatten uns zu Weihnachten eine gute Unterkunft in Abomey gegönnt: mit Klimaanlage für Jan und Warmwasser für mich. Leider mit Matratze aus Beton – und das stand nicht in der Beschreibung. Nachdem wir nach der ersten Nacht wie 80-Jährige mühsam aus dem Bett krochen, schoben wir einfach unsere Isomatten unter das Bettlaken und schliefen ab da herrlich komfortabel. Es ist ja schließlich nicht das erste Mal, dass wir nicht ganz der „afrikanischen Gewichtsklasse“ entsprechen, für die die Matratzen gedacht sind.

Ich war schon ein paar Wochen lang mit einem Guide in Kontakt, der mir Bescheid sagen sollte, wann es rund um Abomey eine Voodoo Zeremonie gibt. Wir wollten keine für Touristen arrangierte Veranstaltung, sondern authentischen Voodoo. In der ersten Januarwoche findet in Ouidah in Benin das alljährliche, große Voodoo Festival statt, zu der viele, viele Touristen aus der Ferne explizit anreisen. Aber wir hatten von Teilnehmern vorheriger Veranstaltungen gehört, das sei nur eine Touristenveranstaltung, die einem Musikfest ähnele und so voll, dass man nichts sieht. Vor zwei Wochen meldete Theo sich und sagte, dass es ab dem 22.12. rund um Abomey Voodoo gäbe und wir organisierten unsere Reiseroute entsprechend.

So sahen die Paläste vor den beiden Taifunen und dem Großfeuer aus.

Theo hatte uns ein zweitägiges Programm „geschneidert“: „Einführung in das Königreich Dahomey“ und „Einführung in den Voodoo“. Zwei entspannte Tage und einen Abend Voodoo Zeremonie. So war der Plan. Aber bei uns ist „Plan“ ja ein sehr dehnbarer Begriff… Zunächst lief alles wie geplant: Theo düste auf seinem Motorrad vorneweg, wir hinterher zum Königspalast. Nicht ein Königspalast, sondern gleich zwölf, weil jede Dynastie einen neuen Palast an den Palast seines Vorgängers gebaut hat. Die „alten“ Paläste wurden aber zu administrativen Zwecken weiter genutzt. Bis heute.

Das Königreich Dahomey wurde Anfang des 17. Jahrhunderts gegründet. Als die Franzosen ihre Kolonialherrschaft entlang der afrikanischen Westküste erweiterten, griffen sie auch das Königreich Dahomey an. Da das kurz nach dem deutsch-französischen Krieg passierte und die Deutschen seitdem nicht ganz so gut auf die Franzosen zu sprechen waren, boten sie ihren Nachbarn (damals war Togoland deutsche Kolonie) Hilfe an – in Form von Kanonen, die sie zuvor den Franzosen abgenommen hatten. Das Königshaus nahm die Hilfe gerne an und die Deutschen schickten auch gleich noch Personal mit, das die Kanonen bediente. Obwohl der König die deutschen Helfer mit Ruß schwarz anmalte, flog die Geschichte auf, die Franzosen erschossen die Deutschen und deportierten den König nach Martinique. Die gesamten Kunstschätze der Paläste raubten sie und bis heute sind erst 26 Artefakte an das Königshaus zurückgegeben worden. Sechsundzwanzig.

1960 erlangte das Land die Unabhängigkeit und nannte sich Dahomey. Erst 1975 wurde es von Dahomey in Benin umbenannt. Zusätzlich zur präsidentiellen Republik wurde das Königshaus Dahomey wieder eingeführt. Als „Staat im Staat“ und Parallelwelt. Die ehemaligen Königsgeschlechter (es sind derer zwölf) haben bis heute königlichen Status und leben in strikten, royalen Familienstrukturen. Jedem der zwölf Königsfamilien (die mittlerweile riesig sind) steht ein „Chef“ vor, der vom aktuellen König von Dahomey inthronisiert werden muss. Dieser Chef hat sein Beraterteam und regiert seinen Zweig der Familie. Da die Familien mittlerweile so riesig sind und diese in großen Compounds (Collectivitiés)  leben, kann man von „Bürgermeistern“ sprechen, nur eben im königlichen Kontext.

Seit 1985 sind die 12 Königspaläste von Abomey UNESCO Weltkulturerbe, aber wir wissen ja schon, dass das nichts bedeutet, wenn Geld gebraucht wird. Die Paläste haben seit 1985 zwei Taifune und ein Großfeuer erlitten und die gesamte Einrichtung und Kunst befindet sich ja bis heute in Frankreich, weswegen die Paläste nicht wirklich so aussehen, wie man sich das vorstellt: Blechdächer überall, weil alle Dächer entweder weggeflogen oder abgebrannt sind, nackte Räume, weil Frankreich den Kram lieber ins Museum stellt als den Königsfamilien zurückzugeben und staubige Innenhöfe, auf denen man barfuß laufen muss. Jetzt wird es etwas kompliziert, denn Voodoo und Königshaus ist eng verknüpft. Die verstorbenen Könige sind mittlerweile alle heilig und begraben, aber weiterhin sehr wichtig. Ihre „Ahnengeister“ werden bis heute geehrt und konsultiert. Und das kann man nur, wenn man mit den Elementen im direkten Kontakt ist – also barfuß auf der Erde. Ist der Boden befestigt, funktioniert das natürlich nicht. Auch vor Voodoo Schreinen ist indoor immer ein Stück nicht betoniert, um immer mit der Erde Kontakt haben zu können, wenn man mit den Geistern oder deren Boten spricht.

Im „Handwerkerhof“, wo früher die Hofhandwerker für das Königshaus gewebt, getöpfert, geschmiedet und geschreinert haben, befindet sich heute ein öffentlicher Handwerkermarkt, auf dem aufgeregtes Treiben herrschte. Nicht, weil die Leute einkaufen wollten, sondern weil eine Inthronisierung stattfinden sollte. Theo sprach mit ein paar Leuten und schon schlüpften wir mit all den Würdenträgern des Königs in den inneren Hof des Palastes und erlebten, wie der König höchstpersönlich mit seinem Gefolge aus Ministern und Beratern einzog. Wow!

Barfuß unter einem Mangobaum stehend (im Palast darf nur der König auf einer Sitzgelegenheit sitzen, alle anderen müssen stehen oder auf dem Boden sitzen) erlebten wir die gesamte Zeremonie der Inthronisierung: wie der zukünftige Chef mit nacktem Oberkörper und rhythmischen Rufen einzog, er dann in weiße Tücher gehüllt wurde und seine Insignien bekam, wie er sein Beraterteam dem König vorstellte und diese dann offiziell ernannt wurden, wie er seine Insignien und Geschenke bekam und dann, einige Rituale später, samt seinem Gefolge auf den Parkplatz vor dem Palast zog, wo ihn seine Familie mit Trommeln und tanzend empfing. Wir waren geflashed und beeindruckt. Da dachten wir noch „einmalig toll“, aber wir sollten uns irren…

Das Kapitel unserer Tour „Einführung in das Königreich Dahomey“ war beendet, wir düsten Theo zum nächsten Kapitel hinterher: „Einführung in den Voodoo“. Wir setzten uns in den Schatten eines Voodoo Tempelkomplexes und Theo erklärte uns sehr analytisch die Grundprinzipien des Voodoo. Wir waren im Vorfeld schon sehr gespannt, wie neu für uns Voodoo im Vergleich zu allen animistischen Traditionen und Glauben Westafrikas sein würde. Wir sind mittlerweile 19 Monate in Westafrika unterwegs und haben viele animistische Glaubensätze kennengelernt und Zeremonien beobachtet. Würde Voodoo für uns neu sein? Was man im Kino und Fernsehen von Voodoo „weiß“, versprach große Unterschiede.

Nach fast einer Stunde Pauken der Theorie des Voodoo sind wir uns sicher: erstens hat das, was Hollywood einem von Voodoo vorgaukelt nichts mit dem zu tun, was Voodoo wirklich ist und zweitens ist Voodoo nichts Neues für uns. Wer sich in der animistischen Welt Westafrikas auskennt und die Grundprinzipien aller Weltreligionen weiß, ordnet Voodoo einfach nur als weitere strukturierte Religion ein. Auch Wikipedia schreibt dazu: „Voodoo ist eine synkretistische Religion, die sich ursprünglich in Westafrika entwickelte. (…) Synkretismus nimmt (…) die Aspekte unterschiedlicher Religionen mehr oder weniger bewusst auf und formt sie zu etwas Neuem. (…) Der Glaube und die Praxis des Voodoo überschneiden sich mit anderen, vornehmlich christlichen Religionen.“ Hieß für uns: nix Neues! Wieder was gelernt.

Wir saßen im Schatten und blickten auf ein riesiges, dreistöckiges Chamäleon aus Beton. Ein reicher Voodoo Gläubiger wollte dem heiligen Chamäleon einen Tempel bauen, um darin Voodoo Zeremonien abhalten lassen zu können, aber starb noch vor der Fertigstellung. Das Chamäleon ist im Voodoo heilig, weil es sich der Umgebung anpasst, die Farben wechselt und damit ähnlich ist wie der Schöpfergott: wandelbar und überall.

Legba ist so etwas wie unser Petrus: steht an der „Himmelspforte“ und fungiert als Bote zwischen Mensch und Schöpfergott. Als „Pfortenwächter“ steht er oft an Kreuzungen.

Die getrockneten Tierköpfe, die auf dem Markt in Lomé (Togo) und auch hier „angeboten“ werden, sind kein Teil von Voodoo, sondern quasi „Reste von Bushmeat“, die man halt aufbewahrt und gegen Fotogeld vorzeigt, weil die Touristen das von Hollywoodfilmen kennen und sehen wollen. Touristen-Nepp, sonst nichts. „Die wollen das sehen, also bekommen die es gezeigt und sie zahlen sogar dafür.“. Auch die „Voodoo Püppchen“ sind im Grundgedanke nicht das, was man aus Hollywood so beigebracht bekommt. Das sollten wir am nächsten Tag lernen. Wichtig ist noch zu wissen, dass ins heutige Haiti verschleppte Sklaven Voodoo weiterentwickelt haben und die amerikanische Variante des Voodoo etwas anders gelebt wird als die ursprüngliche afrikanische Religion, trotzdem folgen beide Varianten den gleichen Prinzipien. Man könnte sich das vielleicht ein wenig wie katholisch und evangelisch oder orthodox vorstellen.

Eigentlich sollten wir erst am nächsten Tag abends zu einer Voodoo Zeremonie, aber Theo war in Kontakt mit dem Betreiber eines lokalen YouTube Channels, der über seine Kontakte von allen Zeremonien der Region weiß und diese mit seinem Kameramann abfährt, um darüber zu berichten. Dieses Team holten wir nach einem schnellen, verfrühten Abendessen ab und fuhren zu einer Collectivitié, also einer Familie, die von einem der vorherigen Könige abstammt. Diese Collectivitié feierte zwei Wochen lang ein riesiges Voodoo Fest mit dem Zweck, dem verstorbenen Vorfahren (der ja nun heilig ist) Ehre zu erweisen und allen Elementen (Feuer, Luft, Erde, Wasser) zu huldigen.

Diese Zeremonie ist unglaublich teuer, weil dazu nicht nur der gesamte Hof renoviert wird, sondern die ganze, riesige Familie für jeden Festtag und jeden Teil der Zeremonie neu eingekleidet wird und man Opfertiere kaufen muss. Diese Collectivitié hatte zehn Jahre für diese aufwändige Zeremonie gespart und wir durften dabei sein.

Den ganzen Abend „bimmelte“ eine „Band“ eintönige Klänge und die Familienmitglieder in ihren aufwändigen Roben tanzten komplizierte Rituale. Eine Frau symbolisierte den königlichen Vorfahr und musste symbolisch das ihm dargebotene Opfer (ein Schaf) annehmen. Das dauerte den ganzen Abend und wir ließen uns verzaubern, wenn es uns auch nach dem stundenlangen „Bimmeln“ irgendwann zu laut wurde. Trotzdem: eine schillernde, farbenfrohe Welt des Voodoo, die nicht im geringsten etwas mit dunklen Mächten zu tun hat, wie man es „aus Funk und Fernsehen“ meint, zu kennen.

Das geopferte Schaf wird in einem Ritual mit Ysop Blättern „gereinigt“, um es dem in der Frau verkörperten königlichen Verfahren zu überreichen.

Ja, ein Schaf wurde geopfert, aber das ist Bestandteil vieler anderer Religionen. Wir waren im Irak beim Opferfest dabei und haben die feierliche, rituelle Tötung eines sorgsam beim Bauern ausgewählten Schafes miterlebt. Nun saßen wir im Benin und erlebten die sehr ruhige und sanfte Schächtung eines weiteren Schafes. „Dunkle Religion Voodoo“? Können wir nicht nachvollziehen. Wir haben aber schon seit 20 Jahren keinen Fernseher mehr und streamen keinen Horror-Quatsch. Wir kennen nun Voodoo in seinem „Geburtsland“ und das ist 10x besser als jeder Hollywoodfilm. Auch, wenn wir nach dem langen Abend froh waren, im Bett nicht mehr das „Bimmeln“ zu hören.

Am nächsten Morgen holte uns Theo wieder ab. Sein Programm des Tages hieß „Voodoo im Alltag und Alltag in Benin“. Wir düsten hinter ihm her in ein „Familienwohnviertel“. Dort lernten wir, warum Stadtentwicklung in Abomey so schwierig bis unmöglich ist. Vor vielen Generationen bekamen Familienoberhäupter vom König ein Stück Land, auf dem sie begannen, ihre Familien anzusiedeln. Das Bauprinzip solcher Familien-Compounds war damals wie heute identisch mit der Architektur eines Palastes: ein Eingangsportal und diverse Nebeneingänge. Im Gegensatz zum Palast ist das Eingangsportal aber immer offen, denn es hat keine Türen. Innerhalb der Mauern befindet sich ein riesiges Labyrinth aus Gassen und Wegen zwischen unzähligen Häusern, in denen die Familienmitglieder wohnen.

Reiseleiter und Gast in Personalunion

Das Problem dabei ist: möchte man die Straße aufreißen, um zu asphaltieren oder eine Kanalisation zu verlegen, geht das nicht, denn die Toten der Familien wurden (und werden) in unmittelbarer Nähe des Hauses oder Compounds begraben und da Tote eine Art Heiligenstatus haben, darf auch eine Straßenbaufirma dort keine Totenruhe stören und solche traditionellen Viertel bleiben so, wie sie Jahrhunderte zuvor auch schon waren: von Sandwegen durchzogen ohne moderne Infrastruktur.

Zwillinge! Keine „Püppchen“!

In eins dieser Häuser durften wir hinein und da waren auf einem Tisch das, war Hollywoodfilm-Gebildete als „Voodoo Puppen“ bezeichnen würden. Auch ich rief „Oh, da liegen Püppchen!“ und wurde von von allen Anwesenden der Familie herzlich ausgelacht. „Das sind keine Püppchen, das sind Zwillinge!“. Ach so: Zwillinge! Statistisch gesehen gibt es in Benin und Nigeria doppelt so viele Zwillingsgeburten wie in Europa. Ohne künstliche Befruchtung natürlich. Zwillinge werden hier verehrt und, obwohl sehr häufig, als etwas Besonderes angesehen. Stirbt ein Zwilling (und das oft schon bei der Geburt), wird als Ersatz eine Holzfigur geschnitzt. Diese Figur wird genauso behandelt wie der lebende Zwilling: er wird gewaschen und angekleidet und bekommt Essen serviert. Meist ist es der erste Bissen des menschlichen Zwillings, der für den hölzernen Zwilling bestimmt ist.

Der Zwilling dieser Frau trägt ihre Ziernarben

Der menschliche Zwilling trägt den hölzernen Zwilling immer bei sich, denn die beiden gehören ein Leben lang zusammen. Wir haben schon mehrere Menschen gesehen, die ihren hölzernen Zwilling im Hosenbund, im Gürtel oder Rock klemmen hatten. Im Haus der Familie war eine ganze Versammlung von Zwillingen. Denn stirbt der zunächst überlebende Zwilling auch, wird auch für ihn eine Holzfigur angefertigt und die überlebenden Familienmitglieder pflegen dann beide. In unserem Fall hatten sie Brot und Wasser zum Frühstück hingestellt bekommen. Da man in Westafrika Ziernarben trägt und auch die hölzerne Kopie des Zwillings diese Ziernarben bekommt (siehe Foto), sieht es so aus, als habe man der „Voodoo Puppe Verletzungen zugefügt“. Daraus entwickelte sich später und ausschließlich in Haiti, die Praxis, die man dank Hollywood kennt, in Afrika aber nicht anwendet.

256 ist die Lösung.

Wir fuhren weiter in einen anderen solchen „Familien-Wohnkomplex“ und lernten noch mehr Theorie des Voodoo. Voodoo kann nämlich auch wichtige Entscheidungen treffen, indem man (nach einem ausgeklügelten System) die Geister der Vorfahren um Hilfe bittet. Die „Müllhaufen“, „Schreine“ oder „Tempelchen“, die man überall vor Dörfern, Häusern und Vierteln sieht, sind in Wirklichkeit die „Hotels“ der Geister der Ahnen oder des spezifischen Götterbotens. Je nach dem, bei welchem Thema man Hilfe braucht, nutzt man das eine oder andere „Hotel“ und folgt dort Ritualen. Für Menschen, die nicht unsere intensive „Einführung in Voodoo“ bekommen haben, mag das alles nach Dreck und Müll aussehen, aber der „Dreck“ ist meist nur über Jahre angehäufter Maisgries mit Palmöl, Blut und Federn der geopferten Tiere und andere Opfergaben.

Nach zwei intensiven Tagen rund um Voodoo haben wir nun einen tiefen Einblick bekommen und konnten dadurch fast ohne Hilfe von Theo verstehen, was wir in der Nacht noch erleben würden. „Mr. YouTube“ wusste von der großen, jährlichen Zeremonie im Königspalast, bei der der aktuelle König all seinen Vorfahren gedenkt und ihnen Ehre erweist. Wir waren zwar noch platt vom Tages- und Nachtprogramm der vergangenen Tage – aber wann hat man schonmal die Chance, bei so etwas dabei zu sein? Also los!

Die Männer tragen 12m Stoff um die Schultern

Als wir am Palast eintrafen, war noch nicht viel los. Es wurden noch Kabel für die Beleuchtung gezogen, die Musiker sortierten ihre Instrumente, Marktfrauen verkauften Snacks auf dem Platz davor. „Mr. YouTube“ wollte sowieso noch bei der Voodoo Veranstaltung der Familie vom Vorabend filmen, also sind wir da wieder hin. Dort passierte im Grunde exakt dasselbe wie am Abend zuvor: in tollen, bunten Kleidern (Männer tragen einen Wulst von 12m Stoff über der Schulter und um die Hüften), führten die vielen, vielen Familienmitglieder rituelle Tänze vor, die „Band bimmelte“, aber alle waren komplett neu prachtvoll eingekleidet.

Etwa 1,5 Stunden bestaunten wir wieder die Tänze und Schrittfolgen, die Stoffe und Kleider, die Rituale und Zeremonien. Alles barfuß natürlich, um den Kontakt zu den Geistern nicht zu stören. Weil wir am Vorabend von Theo, der mir ständig souffliert hatte, schon erklärt bekommen hatten, was warum passiert, waren wir an diesem zweiten Abend schon fast „Profi-Zuschauer“. Nicht ganz so professionell wie die Einheimischen, die schon wussten, wann welche Schrittfolgen zu bejubeln oder zu beklatschen waren, aber wir fühlten uns wieder wohl beim Voodoo.

Am Ortseingang wird wieder Legba, dem Pfortenwächter („Petrus“) mit Lebensmitteln (hauptsächlich Maigries und Öl) geehrt.

Absolut keine Spur von „schwarzer Magie“ und „Totenkult“. Ja, es gibt vereinzelt Fälle, wo mit einer Art „Schadenszauber“ versucht wird, Negatives zu erreichen, aber der Erfolg ist, wie er auch bei jedem anderen, positiven Zauber, abhängig von dem, der daran glaubt und für sich das eine oder andere daraus macht. Euch die Details zu erklären ist schwierig, weil Ihr kein Grundwissen in westafrikanischem Animismus habt. Aber wir können Euch Theo empfehlen, der erklärt das hauptberuflich und hält regelmäßig Vorträge zum Thema – auch in Europa. Allerdings nur auf Französisch.

Personalunion von Reiseleiter und Gast erklärt die Symbolik der Reliefs im Königspalast.

Und genau das machte es so anstrengend für mich. Jan spricht kein Französisch. Ich musste also so ein komplexes Thema erstmal selbst verstehen (und damit meine ich nicht die sprachliche Ebene) und es dann in eigenen Worten auf Deutsch für Jan widergeben. Und das nicht nur zum Thema Voodoo, sondern auch alles andere: die Führung durch die Paläste, die Hintergründe zum Königshaus der Dahomey, die soziokulturellen Zusammenhänge, gesellschaftliche Ordnung und, und, und. Ich habe fast acht Jahre als Reiseleiter gearbeitet und liebe den Job bis heute.

Personalunion erklärt architektonische Details im Palast

Mit Theo als „local guide“ hat die Zusammenarbeit extrem viel Spaß gemacht. Ich nenne es ZusammenARBEIT, denn das war es wirklich für mich. Als Reiseleiter ist man voll im Thema, hat die Sehenswürdigkeiten schon 10x besucht und kennt sich auch ohne „local guide“ aus. Doch ich war als Tourist mein eigener Reiseleiter und das war extrem anstrengend. Trotzdem: wer einen Job für mich als Reiseleiter hat: ich steige sofort wieder ein. Ernsthaft. Einmal Traumjob, immer Traumjob.

„Mr. YouTube“ fand, es sei nun Zeit, wieder zurück in den Palast zu fahren und wir kamen gerade rechtzeitig. Kaum dass wir wieder im Innenhof standen, zündete mit einem riesigen „Kawumm“ die alte Kanone hinter uns, dass die Ohren pfiffen und die Zeremonie ging los. Der König schritt von seinem Thron in königliche Gewänder gehüllt über den Hof zu einer „Installation“ in einer Ecke des Hofes, wo für jeden seiner verstorbenen Vorfahren ein „Tellerstab“ aufgestellt war. Diese Stäbe symbolisieren Verstorbene und werden auch außerhalb der Königshäuser für Rituale genutzt. Der König kniete davor nieder und dann bauten Helfer eine Stoffwand auf, hinter der sich der König seiner Königsgewänder entledigte und seine „Privataudienz“ mit seinen Vorfahren begann.

„Mr. YouTube“ wusste: das kann dauern und wir, mittlerweile echte Profi-Partyhopper geworden, düsten mit ihm zum nächsten Event: ein anderer Zweig einer anderen Königsfamilie feierte auch eine Voodoo Zeremonie und wir fanden uns in erster Reihe auf dem Boden sitzend unter einem Mangobaum wieder und schauten demselben Spektakel zu, wie wir es bei der ersten Familie schon gesehen hatten.

Schriftzug am Eingangsportal des Compounds: „Collectivité Soglo“: Name der Familie königlicher Abstammung

Nur war es diesmal irgendwie weniger privater, denn dieser Familienzweig wohnte an der Hauptstraße und somit waren viel mehr Zuschauer da und es wirkte alles etwas „öffentlicher“. Aber egal, wie: es war nicht für Touristen arrangiert und wir bekamen eine wesentlich größere Dosis Voodoo Zeremonien, als wir ursprünglich dachten – und als man beim riesigen „Voodoo Festival“ Anfang Januar jemals bekommen könnte.

Es war die absolut richtige Entscheidung, Theo zu engagieren statt einen englischsprachigen Guide, der von anderen Touristen (die alle kein Französisch können) immer genannt wird. Theo ist Spezialist auf dem Gebiet, arbeitet mit Fernsehsendern (z.B. ARTE) und Reiseveranstaltern zusammen und hat uns zwei Tage und Nächte buchstäblich gebildet, ist mit seinem Motorrad überall für uns hin geflitzt und hat für uns mit „Mr. YouTube“ seine Kontakte ausgespielt. Traumkollege! Auch als Individualreisende muss man wissen, wann es richtig ist, sich „professionelle Hilfe“ zu holen. So, wie wir das im Norden der Elfenbeinküste auch zwei Mal gemacht haben und deswegen ein solides Grundwissen in animistischen Traditionen Westafrikas haben. Reisen bildet – wenn man will.

Wir saßen diesmal direkt zu Füßen der „Bimmelband“ und uns klingelten schon (oder noch?) die Ohren vom Vorabend und der anderen Familienfeier und genau das ist der Sound, der unter Umständen auch zu Trance führen kann. Für uns war einfach viel zu viel los, um in solche Gefahr zu laufen. Voodoo hat uns nicht verhext, sondern einfach nur ein kleines bisschen verzaubert. Im positiven Sinne. Doch der größte Zauber dieser Nacht kam noch.

Die Kühe werden geopfert

Wir fuhren zurück zum Palast und kamen dort natürlich genau dann an, als der König nach rund 1,5 Stunden mit seiner „Privataudienz“ bei seinen Vorfahren fertig war und, wieder königlich gekleidet, Platz auf seinem Thron genommen hatte. Nun war es Zeit, die Tiere zu opfern: vier Kühe und vier Schafe lagen im Hof bereit und wurden sehr sorgsam und ruhig geschächtet. Nach der rituellen Schlachtung wurden die Tiere in einer bestimmten Art und Weise „dekorativ“ hingelegt und in dieser Position in einen anderen Bereich des Palastes gezogen, wo sie dann für das Festmahl zerlegt wurden. Die gesamte Zeremonie lief bis dahin in absoluter Stille. Kein „Bimmeln“, kein Trommeln“, nur leise Worte des „Zeremonienmeisters“. Sehr, sehr feierlich.

Es war mittlerweile fast Mitternacht, als die Musiker in den Palast einzogen und in einer festlichen Prozession musizierend Runden um das „Hotel“ der verstorbenen Könige drehten. Zu jeder Zeremonie gehören bestimmte Rhythmen und Instrumente und jeder „Rhythmus“ zog getrennt von den anderen „Rhythmen“ als „Band“ ein und vollführte dasselbe Ritual. Das dauerte auch etwa anderthalb Stunden. Währenddessen gab den König seinen Gästen eine Runde Getränke aus: es huschten Leute mit Getränkekästen über den Hof und jeder durfte ein Kaltgetränk wählen. Prost auf den König!

Auf dem Boden sitzend: der Ministerrat des Königs (der in der Türnische thront)

Während der für alle etwas langwierigen Instrumente-Prozessionen kam ein Mann zu uns, den wir aufgrund seines Umhangs sofort als Minister identifizierten. Wir waren seit zwei Tagen überall die einzigen Ausländer und insbesondere nachts leuchteten wir als Weiße aus dem bescheidenen  Zuschauerkreis im Palast doch sehr heraus. Der Mann stellte sich als zweiter Minister / Innenminister vor und wollte wissen, ob wir in Abomey wohnen und verstehen, was hier vor sich ging. Als wir uns als Touristen vorstellten und sagten, wir hätten einen Guide, der alles erklärt, hieß er uns willkommen und verschwand wieder Richtung König. Später erzählte uns Theo, dass je länger die Nacht wurde, die Leute immer erstaunter über unsere Anwesenheit waren: noch nie hatte ein Tourist bis zu diesem Punkt der Zeremonie „durchgehalten“, noch nie hatte ein Tourist der Zeremonie komplett beigewohnt, sagten sie.

Um 1:30 kam es endlich zum Höhepunkt der gesamten Zeremonie: im Palast leben speziell auserwählte Frauen, die die verstorbenen Herrscher symbolisieren und bei Zeremonien verkörpern. Da es ja bei der Zeremonie darum ging, den Vorfahren Ehre zu erweisen, mussten die verkörperten Könige natürlich auch auftauchen. Die Frauen kamen, alle königlich weiß gekleidet, in einer märchenhaften Prozession mit sehr langsamen Zeitlupen-Bewegungen in den Palast gelaufen. Eine jede unter einem bunten, königlichen Schirm.

Der König war mittlerweile wieder ohne seine Königsgewänder, denn als seine Vorfahren lebten, gab es ihn – maximal – nur als Kind und nicht als König. Die in Frauen verkörperten Könige zogen am „König in Zivil“ feierlich vorbei und nahmen dann im Palast Platz. Das war, gegen 2:30, das Ende der Zeremonie – und diese war auch nur die Auftaktzeremonie der folgenden drei Nächte. Als wir um kurz vor drei ins Bett fielen, waren wir selig wie nach einem Weihnachtsfest. Ein Gefühl von Feierlichkeit, gemischt mit Müdigkeit und dem Wissen, gerade etwas ganz Besonderes erlebt zu haben.

Am nächsten Tag war tatsächlich Weihnachten und das war weniger feierlich. Man könnte auch sagen: ging total schief. Theo war mit uns am Vorabend in einer Unterkunft zum Abendessen, wo die Gastgeberin, Edith, erzählte, sie habe zu Weihnachten fünf Europäer zu Gast und würde alle an einen Tisch setzen und allen zusammen für Weihnachten kochen. Wir vereinbarten, dass wir dazukommen würden. Bloß dass die anderen Gäste gar nicht Weihnachten wollten. Zwei entschieden sich spontan, doch lieber wo anders zu essen, drei gingen lieber Voodoo schauen als Weihnachten feiern und die alte Französin, die dort „vorübergehend“ wohnt, weil es in ihrer Heimat Haiti gerade „nicht gut“ ist, trug auch ihren Zwilling im Rockbund und antwortete nicht mal auf mein „Joyeux Noel“.

Wir aßen das nicht sehr spezielle Essen (Fisch mit Pommes statt Huhn mit Reis) und dachten, dass wir vielleicht in der Kirche etwas Weihnachtsstimmung finden könnten. Als wir dort ankamen, war gerade ein Prediger in Aktion, der, mit einem fiepsenden Mikrofon bewaffnet (damit die Leute, die draußen saßen, weil die Kirche voll war auch was hörten), im Mittelgang wild hin und her schritt und gar nicht weihnachtlich in ziemlich eindringlichem Tonfall predigte. Heftig! Er brüllte geradezu aggressiv seine Predigt ins Mikrofon. Wir gaben dem hinter dem Altar sitzenden Pfarrer eine Chance, doch als nächstes kamen die Messdiener dran, ins Mikrofon zu singen. Leider wegen Rückkopplung mit dem Mikrofon des Pfarrers fast schlimmer für die Ohren als die Kanone im Palast. Wir beschlossen, dass für uns Weihnachten dieses Jahr einfach ausgefallen war und gingen ins Bett. Nächstes Jahr hat Weihnachten wieder eine Chance!

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